Aus dem Offenen Brief der Bürgerinitiativen Soziales Sachsen (BISS) e. V. an die Kanzlerkandidaten vom 22. 08. 2002:


Offener Brief an die Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzende

der Bürgerinitiativen Soziales Sachsen (BISS) e. V.
Landesvorsitzender Lothar Seidel
...
09337 Callenberg

OSTDEUTSCHLAND und die BUNDESTAGSWAHL 2002

Sehr geehrte Herren,

blühende Landschaften im Osten wurden uns schon oft versprochen und in der "heißen Phase" um Kanzlerplatz und Regierungspartei werden Sie zu recht nicht müde, die besondere Rolle des Ostens immer wieder zu betonen.
Jetzt sind nun noch für viele ostdeutsche Regionen große Hoffnungen unter der Katastrophenflut scheinbar endgültig zerronnen.

Denn wieder und sooft traf es an erster Stelle Hausbesitzer und den Mittelstand, die vor einem Schlammhaufen stehen und enormen NACHTEIL verlorenen Besitzes alleine durchleiden, ertragen und ersetzen müssen, unbestritten der hohen Solidarität von Menschen, Bund und Ländern.

Dieser NACHTEIL berechtigt NICHT zu Ansprüchen und ist im Gegensatz zum angeblichen VORTEIL nach Grundstücksgröße, bei der Bemessung von Kommunalabgaben für Wasser- und Straßenbeiträge nicht gesetzlich geregelt. ...

Ich erlaube mir deshalb, Sie auf das Thema der Kommunalabgaben aufmerksam zu machen, ein Thema, das die Gemüter großer Teile der Bevölkerung seit Jahren erhitzt.
Leider wird aber dieses Thema durch die Landes- und Regionalpolitik verkannt und an ihm mit halbherziger Ignoranz und Missachtung von 40 Jahren ostdeutscher Realität vorbeiregiert.

Bei der bekannten Arbeitslosigkeit, den tragischen Vermögens- und Einkommensbedingungen der absoluten Mehrzahl Ostdeutscher und nun noch den Folgen der verheerenden Flutkatastrophe, darf uns so ein Relikt wie das Beitragswesen im Kommunalabgabenrecht, dessen Ursprünge aus 1893 stammen, nicht mehr länger in voller und unbarmherziger Härte übergestülpt werden.

Wissen Sie wie eigentlich wirklich, wie hart hierzulande die Häuslebauer 40 Jahre lang um den Erhalt ihrer Hütten kämpfen und bangen mussten? Wie sie um jedes Brett, jeden Sack Zement kämpfen und feilschen mussten, um das Eigentum zu erhalten?

Und wissen Sie auch, wie dankbar diese Menschen die Wende begrüßten, um endlich mal mit Niveau und ausreichendem Material ihre Häuser auf zeitgemäßen Standard zu bringen? ...

Und als viele Menschen dass größtenteils in Griff hatten - auch um den Preis hoher Kreditverschuldung, aber der Hoffnung im Herzen, den Arbeitsplatz zu erhalten und irgendwann vielleicht mal auch mit Lohn nach "westlichen" Vorbild - da tauchten die ersten Kommunalabgabengesetze mit ihren "kalten Enteignungsmechanismen" auf.

Da flattern nicht selten fünf- und sechsstellige Abwasser- Trinkwasser- und Straßenausbaubeitragsbescheide per Briefkasten ins Haus:

Wir wissen auch von Bescheiden mittelständischer Unternehmen, die mehrere 100.000 € betragen - was werden die, außer Schließung, noch für Chancen haben?

Und wie sieht es in den alten Bundesländern aus? - nach Marshallplan und teilweiser Förderung der Abwasseranlagen im Rhein-Main-Gebiet bis zu 90 % ???

In NRW erheben von 396 Kommunen bzw. Abwasserverbänden nur 39 Anschlussbeiträge für Abwasser, in Sachsen sind es dagegen 165 von 226!

Schlimm sieht es auch auf dem Gebührensektor aus. In Sachsen kostet der Kubikmeter Wasser durchschnittlich 5,70 €, darunter Abwasser 2,94 und Trinkwasser 2,75 €.

Dagegen kostet in NRW der vergleichbare Kubikmeter Abwasser nur 16 Cent mehr, wobei dort der Verbrauch doppelt so hoch liegt und damit tatsächlich in vernünftiger Relation zum Preis steht.
Und bekanntlich liegt das Durchschnittseinkommen in NRW an vierter Stelle der Bundesrepublik - in Sachsen dagegen nur an Dreizehnter [Anm. d. Red.: Thüringen an Sechzehnter und damit letzter Stelle!]. Die Kluft in der Arbeitslosenquote erhärtet das Desaster.

Um den durch die galoppierende Teuerung gesunkenen Wasserverbrauch einigermaßen zu kompensieren, schraubte man die Grundgebühren im Sachsendurchschnitt je Wohnung und Monat beim Abwasser auf 6,50 € und Trinkwasser auf 7,80 €.

Das heißt im Klartext, statistisch blättert jeder Wohnungsinhaber Sachsens 14,30 € im Monat hin, ohne das auch nur ein einziger Tropfen Wasser fließt. Spitzenreiter sogar bis zu 25 €, ...

Mit solchen - in den alten BL fast unbekannten Grundgebühren (in NRW erheben nur 29 von 396 Kommunen eine Grundgebühr, in Sachsen dagegen 87 von 226) werden nicht nur die Kubikmeterpreise des Osten geschönt dargestellt, sondern der Bürger bestraft, wenn er sparsam mit dem Lebensmittel Nummer 1 umgeht.

Dieses Drama der unsozialen Abgaben für die ostdeutsche Historie haben wir in zahlreichen Protesten kundgetan.
Viele Politiker tummelten sich dabei auf unseren Kundgebungen und predigten "Wasser"...

Auch MdB S. V. [Name liegt uns vor - d. Red.] aus Penig ... schwamm auf der Welle dieser Abgabenproteste in den Bundestag und hat sich meines Wissens in keiner einzigen ihrer 11 Parlamentsreden für das Thema verwandt, wofür ihr die Wähler das Direktmandat anvertrauten. Heute sitzt sie auf sicheren Listenplatz 4 der sächsischen SPD und hat ihre Wählerbasis offensichtlich ad acta gelegt. Braucht das Land solche Politiker?

Petitionen wurden en masse geschrieben, ein Volksantrag von 180.000 Bürgern landete im Papierkorb des sächsischen Landtages und auf eine hoffenlassende Antwort der EU warten 13.000 Unterzeichner einer Petition aus Glauchau seit 1996.

Ist das eine Politik, die den ostdeutschen Realitäten überhaupt ins Auge sehen will?
Ist das eine deutsch-deutsche Gerechtigkeit? ...

Wenn der Staat dem Bürger das Geld für unsoziale Gebühren und existenzgefährdende Beiträge aus der Tasche zieht, dann bleibt für Konsumtion und Dienstleistung nicht mehr viel übrig - dann geht das Gewerbe, Arbeitsplätze und das soziale Netz kaputt!
Solange sich aber die Politik vor den Erkenntnissen der Basis drückt, vor Volkes Stimme die Ohren verschließt, bleibt der ostdeutsche Aufschwung in den Kinderschuhen stecken.

Die ostdeutsche Einkommens- und Vermögenssituation muss zum A und O der Politik gemacht werden und es dürfen nur noch Entscheidungen in den Parlamenten gefällt werden, die dieser Tatsache Rechnung tragen.
Erst dann haben wir eine reelle Chance, auf das Niveau der [alten - d. Red.] Bundesrepublik Deutschland zu kommen und bleiben nicht ewig ihr Vorhof.

Ich gebe der Hoffnung Ausdruck, das Sie dieses Thema zum Handeln ... bewegt. ...

Die Katastrophenflut hat ganze Kläranlagen hinweg gefegt - Kläranlagen, die auch durch Beiträge der Hausbesitzer finanziert wurden...
Die Wiedererrichtung jeder dieser Anlagen, sollte gründlichst überdacht werden.
Wir und auch viele Umweltschützer gehen davon aus, dass kleine und dezentralisierte Kläranlagen im Falle einer erneuten Flutkatastrophe weniger Mensch und Umwelt gefährden, als die Masse aus großen Sammelanlagen, an der jedes kleine Häuschen dem Anschluss- und Benutzungszwang unterworfen wird.

Der Zopf, der unserer Kommunalgesetzgebung anhängt, ist zu alt und zu ungerecht.
Trinkwasser brauchen ALLE Menschen,
Abwasser verursachen ALLE Menschen,
Strassen dürfen und müssen ALLE Menschen nutzen...,
warum soll der Hausbesitzer die Investitionskosten dann noch persönlich mit tragen?

Ich wünsche Ihnen persönlich alles Gute und Einsichten, die unsere Landespolitiker leider nicht ausreichend haben.

Mit freundlichen Grüßen

Lothar Seidel

Verteiler:

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Bemerkung: Hervorhebungen durch die Redaktion.

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